Leseprobe:
Samstagnachmittag
»Nico und ich wollen ein Baby.« Erwartungsvoll schaute Agnetha ihrer Mutter in die Augen. Sie hoffte auf ein Strahlen, ein Leuchten, etwas, das ihr zeigte, dass ihre Mutter sich mit ihr freute. Halb rechnete sie ja schon damit, dass sie ein »Endlich« oder ein »Das wurde auch mal Zeit« herausließ. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen stopfte Hannelore Wiesenbauer sich noch eine Gabelfuhre Kuchen in den Mund. Agnetha betrachtete das auf und ab wandernde Kinn ihrer Mutter. Gerade wollte die Vierzigjährige sich wiederholen, als ihr doch noch eine Antwort samt Kuchenkrümel entgegenrollte.
Agnetha sank zusammen.
Ja, sie war nicht mehr die Jüngste. Schon gar nicht für eine
Erstgebärende. Aber so war das nun mal, wenn man seinen Traummann erst mit neununddreißig
fand. Trotzdem konnten sie es doch versuchen. Und mit ihrer Frauenärztin hatte
sie sich auch bereits besprochen.
»Meinst du, dass das noch klappt?«, fragte ihre Mutter jetzt auch noch.
»Klar.« Agnetha räusperte sich. Mist. Ihre Antwort klang weniger
selbstsicher als sie sein sollte. »Wir wollen es auf jeden Fall versuchen«,
fügte sie noch hinzu.
»Ich könnte dir einen Hanftee …«
»Deine kreativen Eigenproduktionen lass mal schön bei dir. Wir kriegen
das schon hin.«
»Ich meine ja nur. Die Aaltje schwört drauf. Soll wirklich …«
»Kein Interesse.« Agnetha zog die Augenbrauen zusammen. Sie hatte es
gleich gewusst. Sie hätte es nicht ansprechen sollen. Bei persönlichen Sachen
reagierte ihre Mutter immer anders, als sie es sich wünschte. Sie hatte so
gehofft, dass ihre Mutter sich einfach nur freuen würde. Schließlich hatte sie
immer beklagt, dass sie kein Enkelkind habe. Nur das eine in Berlin, das sie ja
viel zu selten sehe, und klein und süß sei das ja auch schon nicht mehr.
Immer wenn ihre Mutter mit leicht vorwurfsvollem Blick so etwas gesagt
hatte, hatte Agnetha die Zähne zusammengebissen und ihr Schuldgefühl
heruntergeschluckt. Ihre Schuld, dass Hannelore Wiesenbauer sich nicht an einem
weiteren Enkelkind erfreuen konnte. Dabei war das Blödsinn. Sie war nicht dafür
verantwortlich, die Wünsche ihrer Mutter zu erfüllen, zumindest nicht die nach
einem Enkelkind – und dass ihre Schwester in Berlin wohnte und bereits vor über
zwanzig Jahren ein Kind bekommen hatte, dafür konnte sie auch nichts.
Und doch hatte Agnetha sich immer schlecht gefühlt, wenn ihre Mutter
sie mit ihrer Sehnsucht nach weiteren Enkelkindern konfrontiert hatte.
Und darum könnte sich ihre Mutter jetzt verdammt noch mal einfach freuen,
anstatt Agnethas Freude mit Zweifeln zu torpedieren und mit ihrer illegalen
Hanf-Produktion, die Agnetha der 73-Jährigen einfach nicht ausreden konnte.
»Es klappt also nicht«, hörte sie jetzt ihre Mutter sagen.
»Doch! Wie kommst du denn darauf?«
»So schnell, wie du ›kein Interesse‹ angemeldet hast.«
»Ich möchte halt deinen Hanf nicht. Und damit du’s weißt: Wir haben
gerade erst angefangen.« Das stimmte jetzt nur, sofern man ›gerade‹ etwas
großzügig als einen etwa dreimonatigen Zeitraum auslegte. Aber dieses
Wochenende würde es klappen. Agnetha hatte da so ein Gefühl – und ihre
fruchtbaren Tage. Es würde ein kleines neues Leben entstehen. Sie wusste es
einfach. Nur deshalb hatte sie heute das Babythema angesprochen. Sie war voller
Vorfreude und die wollte sie mit ihrer Mutter teilen. Sie musste nur vom
Hanfthema wegkommen.
Immerhin schien Hannelore Wiesenbauer ebenfalls das Thema wechseln zu
wollen, nur nicht ganz in die richtige Richtung. Ihr Blick wanderte zu einer zusammengefalteten
Zeitung am Tischrand.
»Sag mal«, sie nahm die Zeitung in die Hand. »Hast du auch den Artikel über
dieses Unternehmen gelesen?«
»Welches Unternehmen?« Agnetha war alles andere als bereit, über ein Wirtschaftsthema
zu diskutieren. Das lag noch nicht mal in der Nähe ihres gewünschten
Gesprächsziels. Über Unternehmen und deren Rentabilität sprach auch ihre Mutter
sonst nie. Selbst wenn Agnetha hin und wieder den Verlag ansprach, für den sie
häufig als freie Mitarbeiterin Zeichnungen anfertigte, fand ihre Mutter das
sterbenslangweilig.
Agnetha presste die Lippen aufeinander, und während ihre Mutter in der
Zeitung blätterte, dachte sie an Nico, ihren Jugendschwarm, der tatsächlich
jetzt ihr Freund war. Als sie ihn auf dem Klassentreffen vor fünf Monaten
wiedergetroffen hatte, waren ihre Gefühle für ihn von einst übergeschwappt und
im Gegensatz zu ihren Teenagertagen, in denen sie sich eher als das hässliche
Entlein in der Ecke gefühlt hatte, hatte sie es dieses Mal tatsächlich
geschafft, ihn anzusprechen. Und jetzt wollten sie ein Kind. Vielleicht war es
etwas übereilt, doch ihnen rannte ein bisschen die Zeit davon. Und außerdem war
Agnetha sich sicher: Sie beide würden eine gemeinsame Zukunft haben. Und warum
sollte sie diese schöne Zeit nicht mit einem kleinen Erdenbürger teilen, den
sie über alles lieben würden. Sie und Nico, das war etwas für die Ewigkeit.
Dabei war ihre erste Zeit alles andere als einfach gewesen. Denn
Agnetha verband etwas Magisches mit der Vergangenheit. Nicht dass sie ein dafür
prädestinierter Mensch gewesen wäre, der hypersensibel auf Zeichen achtete, um
so eine Verbindung zu Vergangenem aufzunehmen. Nein, ihren Bezug zur
Vergangenheit und – auch wenn es kaum zu glauben war – ihre Reisen dorthin
hatte sie nichts anderem als ihrem Putzfimmel und Ordnungsdrang zu verdanken.
Hätte sie damals vor fünf Monaten auf dem Friedhof nicht das Bedürfnis
verspürt, auf dem fremden Grab den Stein zu säubern – die Inschrift war vor
Schmutz kaum noch zu lesen gewesen –, dann hätte sie den Ring nicht entdeckt,
den Ring, den sie sich dummerweise auf den Finger geschoben hatte. Und schon
hatte sie dringesteckt, in dem Mordfall, der sich hier in Ibbenbüren ereignet
hatte. Im Jahr 1925. Den Ring war sie mittlerweile losgeworden. Zum Glück. Sie
war wieder im Hier und Jetzt – mit Nico an ihrer Seite. Und all ihre
Konzentration, ihre Gedanken, ihr Sehnen galten dem kleinen Wesen, das noch
nicht einmal gezeugt war.
»Das hier.« Hannelore Wiesenbauer hob die Zeitung an und deutete auf
einen Artikel.
Nur mit Mühe riss Agnetha sich aus ihren Gedanken und blickte auf die
Zeitung. ›Wegen Unternehmensbetrug in Millionenhöhe angeklagt‹ stand dort. »Seit
wann interessieren dich solche Schlagzeilen?« Ihre Stimme klang ein wenig
gereizt. Dann hielt sie inne. »Oder hast du da etwa investiert?« Erschrocken
griff Agnetha nach der Zeitung.
»Neee«, sagte ihre Mutter ein wenig langgezogen. Agnetha schenkte ihr
einen intensiven Blick. »Aber eine Menge anderer sind drauf reingefallen«,
wusste Hannelore. »Die werden ihr Geld vielleicht nie wiedersehen.«
Agnetha betrachtete das Bild der beiden CEOs des Unternehmens. ›G. Bastian
beschuldigt seinen Kompagnon H. Windscheidt des Betrugs‹ stand dort.
Hannelore tippte auf das Bild. »So adrett gekleidete junge Herren.« Sie
schüttelte den Kopf.
»Tja«, sagte Agnetha. »Es steckt halt nicht immer das drin, was man erwartet.«
Sie legte die Zeitung zur Seite.
»Und der eine ist jetzt auch noch untergetaucht«, berichtete Hannelore.
»Na, dann hoffen wir mal, dass er wieder auftaucht.« Agnetha stand auf.
»Willst du schon gehen?«, fragte ihre Mutter.
Agnetha nickte, obwohl sie eigentlich noch ein wenig Zeit gehabt hätte.
Aber sie spürte den Schmerz tief in sich, die Enttäuschung, dass ihre Mutter
nicht so reagiert hatte, wie sie gehofft hatte. ›Du bist wie Papa‹, dachte sie.
Anstatt die Enttäuschung anzusprechen, spielte sie beleidigt und wich aus.
Einen Moment lang stand sie unentschlossen vor ihrer Mutter, dann nahm sie
ihren Teller und ihre Tasse und spülte beides ab.
»Ich glaub, den einen da, den kenn ich.« Hannelore Wiesenbauer tippte
auf das Zeitungsbild.
»Du kennst die?« Agnetha räumte Teller und Tasse in den Schrank und
beobachtete, wie ihre Mutter die Zeitung zu sich heranzog und mit
zusammengekniffenen Augen das Bild betrachtete. Agnetha reichte ihr die
Lesebrille.
»Ja, ja«, sagte Hannelore, nahm die Brille, aber setzte sie nicht auf. »Das
ist mein Chef«, murmelte sie.
»Mama, das ist doch nicht dein Chef. Der ist viel zu jung.« Das fehlte
jetzt noch, dass ihre Mutter dement wurde.
»Ich war auch mal jung«, argumentierte Hanelore.
»Ja, Mama, ich weiß.« Agnetha nahm ihre Jacke. »Und ich muss jetzt
gehen. Tschüs, Mama.« Kurz hielt sie inne, dann strich sie ihrer Mutter über
den Arm und ging.
Ihre Mutter blickte noch eine Zeit lang auf die Zeitung. Schließlich legte
sie sie zur Seite und aß ihren Kuchen weiter.
Samstag - früher Abend
Am frühen Abend
stand Agnetha in ihrer Wohnung in der Küche und bereitete schon einmal den
Salat zu. Nico wollte gleich kommen. Sie war immer noch ein wenig nervös, wenn
sie auf seine Ankunft wartete, spürte diese prickelnde Vorfreude. Darum bekam
sie das Grinsen aus ihrem Gesicht jetzt auch nicht weg. Den Gedanken an das
Gespräch mit ihrer Mutter heute Nachmittag schob sie beiseite.
Kaktus, ihr frecher schwarzer Kater, wartete ungeduldig darauf, dass er
ein wenig vom Thunfisch abbekäme. Gerade sprang er erneut auf die Arbeitsfläche,
doch Agnetha schubste ihn wieder herunter. Sie wusch die Gurke ab und war sich
bewusst, dass sie mit Argusaugen beobachtet wurde. Nur ahnte sie nicht, dass es
im nächsten Augenblick nicht mehr die Augen ihres schwarzen Katers sein würden,
die sie anstarrten. Agnetha stellte den Wasserhahn aus, und noch bevor sie das
Trockentuch ergriff, war da dieses Fauchen in ihrem Rücken.
Sie drehte sich um und die Gurke glitt ihr aus der Hand. Vor ihr stand
nicht ihr Kater. Der hatte sich bereits aus dem Staub gemacht.
Die junge Frau, die vor ihr stand, beugte sich vor, hob die Gurke auf
und hielt sie Agnetha entgegen. Ohne den Blick von dem geschminkten Gesicht mit
dem umrahmenden dunklen Pagenschnitt abzuwenden, nahm Agnetha die Gurke. Schließlich
drehte sie sich zur Arbeitsfläche, atmete einmal tief durch und drehte sich erneut
um.
»Was willst du hier?« Ihre Stimme klang nicht sehr nett. Doch Agnetha
hatte auch nicht vor, freundlich zu sein.
»Hallo«, sagte die junge Frau. »Ebenfalls angenehm, dich zu sehen.« Der
rote Mund zog sich in die Breite.
»Was willst du?« Agnetha wandte sich erneut zur Arbeitsfläche, nahm das
Messer und begann, die Gurke zu schneiden. Das durfte jetzt einfach nicht wahr
sein! Emilia stand hier. Direkt hinter ihr. In ihrer Küche. Das war kein gutes
Zeichen. Das sollte doch wohl nicht etwa bedeuten …
»Ich reise nicht.« Agnetha drehte sich zu Emilia. Das Messer hielt sie
noch in der Hand, was allerdings unnütz war, denn es bedeutete für Emilia keine
Bedrohung, keine Gefahr. Niemand konnte sie umbringen, niemand konnte ihr mehr
ein Leid antun. Sie war bereits tot. Gestorben 1925. Ermordet. Und Agnetha
hatte ihrer Seele Ruhe und Frieden geschenkt, indem sie den Täter ermittelt
hatte. Danach war Emilia verschwunden, genauso wie der Ring.
Und jetzt stand Emilia hier in ihrer Küche, sah aus wie das blühende
Leben, ein junges Mädchen im Teenageralter, das sich etwas zu sehr
zurechtgemacht hatte. So, als würde sie gleich ausgehen wollen, ihre erste
Liebe treffen. Doch dem war nicht so. Dass sie hier nun stand, konnte nur eins bedeuten.
»Dieses Mal möchte ich die Gelegenheit ergreifen und dir eine Hilfe
sein«, begann Emilia, wobei sie das ›dir‹ deutlich betonte. »Ich verfolge keine
Eigeninteressen, naja, oder vielleicht nur minimale. Ich bin genötigt, ein paar
gute Taten zu sammeln.« Ihr roter Mund begann erneut lächeln.
»Gute Taten?«
»Ja, beim Herrn.« Emilia deutete mit dem Zeigefinger nach oben. Agnetha
starrte zur Decke. Eigentlich war sie noch nicht einmal richtig gläubig.
Meistens verschob sie solche Gedanken ans Jenseits mit Himmel und dem Leben
danach auf später. Zur Kirche ging sie sehr selten. Und doch wusste sie, dass
es da etwas nach dem Leben hier auf Erden gab. Sonst wäre Emilia ihr nie
begegnet.
»Kannst du deine guten Taten nicht mit jemand anderem zusammen sammeln?«,
fragte Agnetha. »Ich hab da jetzt echt keine Nerven für.«
»Jetzt mach doch nicht so ein saures Gesicht«, sagte Emilia. »Ich
befürchte, dass nur du den Auftrag erfüllen kannst. So geht es doch um dich. Du
bist diejenige, der Gefahr droht. Agnetha, es ist mir ein tiefer Wunsch, dich heute
Abend zu einem Gang zum Friedhof zu ermuntern.«
»Heute Abend?« Agnetha schnappte nach Luft.
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