Das verlorene Gefühl. Die Geschichte der Marie Fuchs (2)

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Tag 1 – Donnerstag – 03.06.1897

Der zarte Ring saß ein wenig zu fest. Marie hob ihren Ringfinger und zog an dem goldenen Metall, bis es sich schließlich über ihren Knöchel schieben ließ. Mit metallischem Klimpern kam der Ring vor ihr auf dem Schminktisch zum Liegen. Marie rieb sich den Knöchel. Das nächste Mal würde sie ein wenig Creme auf ihrer Haut verteilen, damit er sich besser löste.

Einen Augenblick lang blickte sie in ihr Spiegelbild und legte ihre Stirn in Falten. Zwei Haarsträhnen ihrer hellbraunen Haare hatten sich aus ihrem Haarzopf gelöst und hingen locker an ihren Wangen herab. Ihre braunen Augen musterten wie immer skeptisch die ihrer Meinung nach zu groß und zu krumm geratene Nase. Immerhin lenkte diese den Blick von den Schatten ab, die sich seit einiger Zeit unter ihren Augen gebildet hatten. Die junge Frau verzog ihren Mund zu einer Grimasse, atmete tief durch und versuchte ein Lächeln.

Ein mehrmaliges Hupen ließ sie zusammenfahren. Sie sprang auf und eilte zum Fenster. Dabei riss sie ihr Schmuckkästchen von der Frisierkommode. Mit lautem Geklapper schlug es am Boden auf und Haarspangen, Ketten und Armbänder schleuderten über den Boden.

Auch das noch! Marie murmelte ein paar nicht sehr damenhafte Worte. Kurz überlegte sie, sich hinzuhocken und alles einzusammeln, entschied sich dann aber dafür, zuerst das Geschehen auf der Straße zu ergründen. Sie eilte zum Fenster. Ein Blick hinaus zeigte ihr, dass ihre Vermutung richtig war: Eberhard stand bereits unten auf der Straße. Den linken Arm hatte er über den vorderen hölzernen Aufbau seines neuen motorisierten Kutschenwagens gelegt. Es sah fast so aus, als umarme er das Gefährt. Seine rechte Hand umklammerte eine Ballhupe, die er jetzt erneut betätigte.

Ungeduldig blickte er zu ihrem Fenster hoch. Reflexartig trat Marie einen Schritt hinter den seitlich am Fenster angebrachten Brokatvorhang zurück. Als sie wieder vortrat, entdeckte sie Robert. Er lud bereits seinen Koffer in die hinter dem neu erstandenen Motorwagen stehende Kutsche, die nicht mit knatternden Motoren ausgestattet war, sondern vor der die beiden braunen Pferde Graf Gerold und Gräfin Lotte standen.   

Oje. Sie schaute zu ihrer Wanduhr. Schon acht Uhr dreißig. Eberhard war wie immer pünktlich. Er hasste Unpünktlichkeit. Marie hechtete zu ihren auf dem Boden verteilten Schmuckstücken und räumte sie zurück in die Schatulle. Selbst ihre Dose mit den Haarnadeln war aufgesprungen. Die Nadeln glitten durch ihre Finger und fielen teilweise wieder auf das polierte Holz des Parketts. Egal. Sie nahm die Dose, warf sie in die Schmuckschatulle und packte diese noch schnell in ihren Koffer. Dann klappte sie den Deckel zu. Erst jetzt fiel ihr Blick auf ihren Ringfinger. Der Ring. Sie hatte ihn auf die Frisierkommode gelegt. Da war er nicht mehr. Marie eilte zur Kommode, hob eine Zeitschrift an, schaute hinter die Puderdose. Auch dort lag er nicht.

Erneutes Hupen drang an ihre Ohren. Wo war ihr Ring? Ein Blick über den Boden brachte ihn auch nicht zum Vorschein. Und sie hatte keine Zeit mehr. Wenn sie nicht wollte, dass Eberhard sämtliche Nachbarn mit seinem Gehupe erzürnte, sollte sie lieber jetzt zusehen, dass sie hinunterkam. Vielleicht war der Ring ja ebenfalls auf den Boden gerollt und sie hatte ihn, ohne es zu merken, bereits mit den anderen Schmuckstücken zurück in ihre kunstvoll verzierte Aufbewahrungsbox gesteckt.

Sie lief zur Tür und eilte den Flur entlang. Eberhard würde hoffentlich nicht merken, dass sie keinen Ring trug. Schnell zog sie sich am hölzernen Geländer um die Kurve und rannte die Treppe hinunter. Auf halbem Weg kam ihr Robert entgegen.

»Wo bleibst du denn, Schwesterherz?«, fragte er.

»Bin schon da«, sagte sie. »Kannst du meinen Koffer hinuntertragen?«

»Wenn’s sein muss.« Robert sah seiner davoneilenden Schwester hinterher. Dann erklomm er die letzten Stufen und mühte sich anschließend mit dem Koffer ab.

Marie war indessen nach draußen gehuscht und begrüßte Eberhard.

»Marie, meine Verehrteste.« Eberhard hauchte ihr einen Kuss auf den rechten Handrücken, während sie die linke Hand ein wenig seitlich in den Stoff ihres langen Reisekleides hüllte. Zum Glück fiel ihm ihre Verlegenheit nicht auf. Sein Blick konzentrierte sich vielmehr auf seine Uhr, die er soeben aus seiner Westentasche hervorgezogen hatte. »Sie sind spät dran.«

»Ja, ich weiß.« Marie lief rot an. Es ärgerte sie, dass sie immer so unpünktlich war, und es ärgerte sie noch mehr, dass Eberhard das nun so hervorkehrte. Seine Verstimmtheit war zusätzlich an der Anredeform zu erkennen, denn normalerweise duzte sich das Paar bereits, zumindest wenn sie nicht in der Öffentlichkeit, sondern nur unter sich waren.

Einen Augenblick schwiegen sie und standen ungerührt da. Schließlich klopfte Eberhard auf das hellbeige, glänzend lackierte Holz seines Neuerwerbs. Ein Lächeln bemächtigte sich seiner Gesichtszüge.

»Und? Verehrteste? Was sagst du dazu?«

Gut, sie waren also wieder beim ›Du‹. Marie atmete ein wenig auf.

»Hübsch«, sagte sie.

»Hübsch?« Eberhard zog eine Augenbraue hoch. »Ein Prachtexemplar, würde ich sagen. Zwei Zylinder, 8 PS, ein neu entwickelter Motorblock, der vorne sitzt …«

»Wie geht es der kleinen Mia?«, unterbrach Marie ihn. »Und Josepha?«, fügte sie schnell hinzu.

»Es geht ihnen beiden wieder besser. Das Schlimmste der Grippe ist wohl überstanden und Josepha kann sich jetzt wieder etwas mehr um Mia kümmern«, sagte Eberhard.

»Gut«, sagte Marie und lächelte.

Mit einem Knatschen öffnete sich die Haustür. Robert schleppte Maries Koffer die Stufen hinab.

»Marie, hast du dich schon von Mutter verabschiedet?«, prustete Robert.

»Oh, nein.« Sie eilte zurück ins Haus. Vor der Salontür blieb sie stehen. Nach einem kurzen Klopfen trat sie ein. Ihre Mutter Wilma Fuchs saß trotz ihres Alters von fast fünfzig Jahren kerzengrade auf dem Stuhl am langen Tisch und stach mit einer Nadel in ihr neuestes Stickwerk.

»Mutter«, sagte Marie, »ich möchte mich verabschieden.« Sie lächelte und trat an den Tisch.

Wilma Fuchs schob ihre Brille die Nase entlang nach unten und betrachtete ihre Tochter über den Brillenrand hinweg. Dann stand sie auf und musterte Marie nochmals von oben bis unten. »Hast du etwa vor, ohne Hut zu fahren?«

Marie griff sich an den Kopf. »Ich hole ihn gleich.«

»Gut.« Wilma Fuchs setzte sich und griff nach ihrer Nadel. »Richte der Frau Kremer meine Grüße und besten Wünsche aus.«

Marie nickte und wandte sich bereits ab. Einmal noch drehte sie sich um. »Ich grüße dann auch das Tantchen von dir«, sagte sie.

Wilma Fuchs zog ihre rechte Augenbraue hoch. Sie ließ das unkommentiert stehen und wandte sich erneut ihrer Stickarbeit zu, während Marie den Raum verließ.

Keine zwei Minuten später saß sie auf der mit hellen Lederpolstern ausgestatteten Rückbank des Daimler Phönix-Wagens, ein Motorwagen, der gerade erst auf den Markt gekommen war und den Eberhard von Riemstein als einer der ersten gekauft hatte. Eberhard nahm hinter der Lenksäule mit dem hölzernen Lenkrad Platz und Robert kurbelte den Anlasser. Kurze Zeit später sprang das Automobil an und es konnte losgehen.

Zuerst mussten sie noch das Tantchen abholen. Das Tantchen, das eigentlich gar nicht ihre Tante war, sondern eine Cousine ihrer Mutter, eine eher nicht so gern gesehene. Zumindest nicht von ihrer Mutter. Doch das war Marie egal. Und Robert auch. Sie mochten ihr ›Tantchen‹, egal, was die feine Gesellschaft von ihr hielt und auch wenn sie des Öfteren etwas viel plauderte und kaum ein Geheimnis für sich behalten konnte. Doch sie hatte das Herz am rechten Fleck sitzen und sie hatte ihnen vor fast zehn Jahren einmal sehr geholfen.

Marie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und versuchte die Fahrt zu genießen, doch die Kurven waren wackelige Herausforderungen und Marie fürchtete jedes Mal, dass der Wagen gleich kippen würde. Sie war froh über jede Straßenbiegung, die sie heil überstanden. Und insgeheim zählte sie, wie viele Abzweigungen sie noch hinter sich bringen mussten, bevor sie die Gutzkowstraße in Sachsenhausen erreichen würden. Fünf waren es noch.

*

In dem schmucken Wohnhaus in der Gutzkowstraße lief derweil eine etwas korpulente Frau aufgeregt zwischen ihrem Wohnsalon, dem Flur und dem Badezimmer hin und her. Kunigunde Wadelheim platzte fast vor Reisefieber und öffnete bei jedem Gang über den Flur ins Bad und zurück die Haustür. Sie spähte nach links und nach rechts, doch bisher war kein Stahlross aufgetaucht. Nervös drehte sie an ihren dicken Fingerringen.

Gerade schloss Kunigunde erneut mit einem Seufzer ihre dunkle Haustür. Ihr Kater Wilhelm der Erste – sie bestand auf ›der Erste‹, denn mit dem ›Zweiten‹ wollte sie überhaupt nichts am Hut haben – schlich um ihre Beine und gab ihr mit einem Maunzen zu verstehen, dass sie sich lieber um seinen Futternapf kümmern sollte, anstatt hier so unnütz hin und her zu laufen.

»Hach, Wilhelm.« Kunigunde hob ihren alten grauen Kater auf den Arm. »Du hast ja keine Ahnung, wie das ist. Ich bin doch schon seit Jahren nicht mehr verreist. Und nun auch noch eine Reise zu der Barbara Kremer.« Sie drückte das Tier an ihren Busen und streichelte es ausgiebig mit der freien Hand. Der Kater hingegen hatte bereits genug von Kunigundes Parfüm geschnuppert und verlangte, wieder heruntergelassen zu werden. Kunigunde ließ ihn von ihrem Arm gleiten.

»Luise gibt dir gleich was.« Ihr Dienstmädchen würde gleich wieder da sein. Sie hatte für ein paar Besorgungen kurz das Haus verlassen. »Du hast ja keine Ahnung«, rief sie dem Getigerten hinterher, als dieser bereits durch den schmalen Türspalt ins Wohnzimmer entschwand.

Kunigunde schob ihre zwei Koffer, die im Flur standen, näher an die Haustür heran. Ein erneuter Blick nach draußen brachte immer noch nicht das gewünschte Objekt herbei. Enttäuscht schloss sie die Haustür. Und wenn diese komische Kutsche ohne Pferde von dem Eberhard versagt hatte? Wenn sie nun zu spät zum Bahnhof kamen? Den Zug verpassten?

Ein mehrfaches Hupen unterbrach ihre Gedankengänge. Sie riss die Tür auf und stürmte hinaus – direkt in einen vorbeieilenden kleinen Jungen hinein.

»Hey, du Knirps.« Tante Kunigunde beugte sich zu einem circa fünfjährigen Jungen herunter und klopfte ihm auf die Schulter. »Na, da haben wir aber beide Glück gehabt«, lachte sie.

»Glück gehabt?« Eine empörte Frauenstimme ließ sie aufschauen. Der Knirps war nicht allein unterwegs.

»Ja.« Kunigunde richtete sich auf. »Hätte schlimmer kommen können. Es bestand die Gefahr, dass wir beide umfallen, nicht wahr?« Sie lächelte den kleinen Jungen an, der etwas zögerlich zurücklächelte.

Inzwischen war Marie ausgestiegen. »Tantchen«, rief sie und lief auf Kunigunde zu.

»Ja, mein Meedsche«, lachte Kunigunde, ließ Mutter und Sohn unbeachtet und breitete ihre Arme aus, um Marie zu begrüßen.

»Tantchen, wo sind denn deine Koffer?«, hörte sie die Stimme von Robert.

»Im Flur, mein Lieber, im Flur.«

Während Robert in ihrer Wohnung verschwand, grüßte sie Eberhard, der bereits ausgestiegen war und vorne die runden Lampen mit einem Tuch von Vogeldreck befreite.

»Madame«, sagte er formvollendet, beugte sich vor und deutete einen Kuss auf ihrem Handrücken an. Mit einem Strahlen im Gesicht richtete er sich wieder auf und klopfte auf seine motorisierte Kutsche. »Na, was sagen Sie?«

Kunigunde beäugte das Gefährt, das nicht mehr so wie die allerersten Automobile direkt nach dem Kutschbock endete, sondern für den Motor noch einen Vorbau besaß, um das Eberhard nun abermals liebevoll seinen Arm legte.

»Herr von Riemstein«, sagte das Tantchen, »Sie können noch so sehr das Kutschenteil hier tätscheln, es wird Ihnen keine Liebe zurückgeben. Und darum ist mir die vierbeinige Zugkraft einfach lieber.« Mit einem Grinsen im Gesicht marschierte sie zu der dahinterstehenden Kutsche und klopfte den beiden dunklen Pferden das Fell.

»Na, Graf Gerold und Gräfin Lotte, wie geht es euch? Alles in Ordnung?«

»Jawohl, Frau Wadelheim«, sagte Kutscher Gustav, stieg vom Bock und lupfte seine Schirmmütze.

»Guten Tag, Gustav«, sagte Kunigunde. »Wie geht es Ihnen.«

»Bestens, Frau Wadelheim. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Könnten Sie sich um meine Koffer kümmern?«

»Aber sicher doch.« Gustav lief Robert entgegen, der mühevoll den ersten Koffer heranschleppte.

Als dann Tante Kunigunde verkündete, dass nicht nur ihr Gepäck, sondern auch sie in einer richtigen Kutsche zum Bahnhof fahren werde, trat Eberhard zeitgleich in einen Pferdehaufen, der neben seinem Automobil platziert war. Maries Verlobter sprang zurück und fluchte, während Marie mit einem Tuch herbeieilte und Kunigunde sich ein Grinsen kaum verkneifen konnte. Schließlich bot sie aber an, den Schuh im Haus zu säubern. Sie nahm das Schuhwerk an sich und ließ Eberhard auf einem Bein stehend und abermals seinen Wagen umarmend zurück. Marie folgte ihr.

»Guck mal«, sagte Kunigunde, nachdem sie die Sohle in einer Schüssel mit Wasser gesäubert hatte. Sie grunzte und begann zu lachen.

»Tantchen.« Marie kam näher. »Was hast du denn?«

»Schau doch«, meinte Kunigunde. »Dein Verlobter trägt Schwein.«

Nach einem Blick auf die Schuhsohle erkannte Marie, dass die Sohle nicht glatt war, sondern ein Muster aufwies, das, zumindest mit Fantasie – und davon hatte Tante Kunigunde genug – an eine Schweinenase erinnerte. Marie schüttelte den Kopf. Doch auch sie musste grinsen.

Schließlich brachten die beiden Damen das Schuhwerk zurück zu seinem Besitzer, der immer noch einbeinig auf der Straße stand. Kunigunde setzte sich zu ihrem Gepäck in die von Gustav gelenkte und mit zwei Pferden ausgestattete Kutsche.

Marie zögerte einen Moment, doch nachdem sie der Blick von Eberhard traf, setzte sie sich auf die hintere Bank seines Gefährts. Sie hoffte, dass es bis zum Bahnhof nicht mehr zu viele Kurven gab. Und plaudern konnte sie gleich noch genug mit Tante Kunigunde. Leider hatte sie nicht mitbekommen, dass Eberhard und Robert soeben abgesprochen hatten, dass Robert nun das Gefährt ausprobieren durfte. Ihre Finger krallten sich in das Leder der Polsterung und sie hoffte sehr stark, dass dieser nicht so rasant Motorwagen fuhr wie Niederrad.

Diese Hoffnung sollte sich nicht erfüllen. Nachdem Eberhard das Automobil angekurbelt und sich links neben Robert gesetzt hatte, betätigte jener den Fahrthebel am Lenkrad. Es ruckelte und knallte und sie fuhren los. Der Wagen rollte nicht nur immer schneller, sondern Robert nahm es mit den Abständen auch nicht so genau. Mal fuhren sie zu weit rechts, mal zu weit links. Doch nicht nur Marie kam ins Schwitzen. Sie bemerkte sehr wohl, wie ihr Verlobter sich immer mehr verkrampfte und seine linke Hand das dunkle Metall der seitlichen Sitzbegrenzung umklammerte, während die rechte die Ballhupe hielt, der er immer wieder lautes Tröten entlockte. Das erschreckte zwar die Fußgänger und ließ sie schimpfen, aber immerhin sprangen sie zur Seite und somit wurden größere Katastrophen verhindert.

»Hey, das ist ja famos«, rief Robert, der der Einzige auf dem schwankenden Gefährt war, der anscheinend richtig Spaß hatte.

»Ja«, bestätigte Eberhard. »Und noch schöner wäre es, wenn du das Baby nicht schnell, sondern unbeschadet zum Bahnhof bringen würdest.«

»Welches Baby?« Robert schaute Eberhard fragend an.

»Schau nach vorne«, herrschte Eberhard seinen zukünftigen Schwager an. Gleichzeitig betätigte er Bremshebel und Ballhupe. Eine Frau sprang im letzten Moment in einen Hauseingang.

Marie schenkte einen dankenden Blick gen Himmel, als sie schließlich unbeschadet und ohne anderen Personen größeren Schaden zuzufügen, vor das Bahnhofsgebäude rollten. So schnell würde sie niemand mehr in dieses motorisierte Teil bekommen. Schon gar nicht, wenn Robert hinter dem Lenkrad saß.

Als sie sich von ihrem Sitz erhob und das bunte Treiben vor dem Bahnhofsgebäude in sich aufsaugte, spürte sie ein freudiges Kribbeln in ihrem ganzen Körper. Endlich passierte mal wieder etwas in ihrem Leben. Die letzten Jahre waren eher gleichmäßig verlaufen. Nachdem sie aus der Schweiz zurückgekehrt war, um nach dem Tod ihres geliebten Paps die Firma zu leiten, - zusammen mit Kunigunde, der die Hälfte des Unternehmens gehörte - hatte sie zwar viel Neues gelernt, doch mittlerweile verlief jeder Tag wie der andere und sie spürte in ihrem Herzen diese Sehnsucht nach mehr. Mehr Freiheit. Mehr Erlebtes. Mehr Leben. Ja, sie freute sich, auch wenn es nur um eine Reise von fünf Tagen ging.

»Kinder«, lachte Kunigunde, als sie aus dem Wagen stieg. »Kinder, seht mal, ich glaube, unser Zug ist schon da. Da, der, der da so herrlich dampft.« Sie nahm Marie bei der Hand und zog sie mit sich durch die große Eingangshalle. Der 1888 neu erbaute Bahnhof zählte als der größte Europas Eigentlich wollte Marie auf Eberhard und Robert warten, doch gegen Kunigundes Begeisterungsrausch kam sie nicht an. Egal, dachte sie. Der Zug würde ja nicht vor der geplanten Zeit abfahren und demnach hatten sie noch zehn Minuten. Eberhard würde bestimmt gleich zum Bahnsteig eilen und dann könnte sie sich noch von ihm verabschieden. Und Robert würde es hoffentlich noch schaffen, in den Zug zu steigen. Sie eilte Hand in Hand mit Kunigunde durch die Halle. Ihre langen Kleider rauschten den breiten Gang entlang. Marie hielt mit der linken Hand ihren Hut fest, den sie wohl doch etwas zu schräg gesetzt hatte und der nun drohte abzufallen. Da Kunigunde und Marie bereits im Besitz eines Billetts waren, liefen sie an den vielen Kassenhäuschen vorbei, an denen sich die Menschen zwischen den schmiedeeisernen Abtrennungen drängten, um Fahrscheine zu kaufen und Informationen zu erhalten. Die beiden Damen liefen zu den Bahnsteigen. Es war tatsächlich ihre Dampflok, die dort bereits stand. Sie hatten einen Bahnhofsaufseher gefragt. Behände kletterte Kunigunde die Stufen zum Waggon hoch. Marie folgte ihr.

Während die Frauen sich ihre Plätze suchten, begannen Robert und Eberhard zusammen mit Gustav, die Koffer auszuladen, die ein herbeieilender Bediensteter entgegennahm, um sie kurz darauf im Zug zu verladen. Schließlich stieg auch Robert ein. Eberhard eilte zu dem Fenster, das Marie bereits geöffnet hatte und sprach zu ihr: »Bleiben Sie mir treu, Verehrteste.«

»Ja«, lachte Marie, »natürlich. Es sei denn, mir reitet gleich ein Prinz auf einem Schimmel entgegen.«

»Marie.« Eberhard schien nicht amüsiert. Er setzte einen enttäuschten Blick auf, während der Zug in die Gänge kam und mit Prusten und Pfeifen langsam losrollte. Eberhard lief ein paar Schritte mit. »Bleiben Sie nicht zu lange«, rief er noch.

»Aber nein«, rief Marie, »es sind ja nur ein paar Tage. Adieu.« Sie hob ihre Hand und winkte.

Eberhard warf ihr noch eine Kusshand zu, dann verschwand er im Rauch, den der Schornstein der Dampflok ausstieß.


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