Himmelsstern. Das Geheimnis der alten Frau (Bd. 3)




Worum es geht: 

Was machst du, wenn die Kriegsfront immer näher rückt, deine Mutter sich aber weigert, das Haus zu verlassen?

Im März 1945 müssen Else und ihre Mutter aus Ratibor fliehen. Doch wird Else es bis nach Bad Kudowa schaffen, wo ihre beste Freundin und Cousine Anna wohnt? Zusammen mit ihrer psychisch angeschlagenen Mutter Gesine macht sie sich auf den Weg. Doch nicht nur der Krieg setzt der Neunzehnjährigen zu. Wer ist diese merkwürdige Frau, die sie verfolgt und die ihre Mutter zu kennen scheint? Was hat die 'alte Hexe' vor? Und was für ein Geheimnis verbirgt sich hinter ihr?
Wie gut, dass Else wenigsten in 'Strumpf', einem ihr zugelaufenen jungen Hund, einen treuen Begleiter findet.
Um das Familiengeheimnis zu lüften, muss sie zu ihrer Tante Rosie finden. Doch nicht nur Else macht sich auf den Weg dorthin …
Ein mitreißender, unter die Haut gehender Roman über Flucht und Vertreibung, Freundschaft und Zusammenhalt.



Leseprobe: 

Alle raus hier! März 1945

Else trat aus dem Bäckerladen auf die Straße. Sie presste das Brot eng vor ihre Brust, als gelte es, einen Säugling vor der eisigen Kälte zu schützen. Der frische Brotgeruch stieg der jungen Frau in die Nase und vernebelte ihre Sinne.
Dennoch fiel es ihr auf.
Irgendetwas war anders als vor einer halben Stunde, als Else hier entlanggelaufen war. Schnell entlanggelaufen war, damit ihre fast taubgefrorenen Füße in den zu dünnen Schuhen etwas wärmer wurden, damit sie die Lebensmittelmarke noch loswurde und ein Brot erhielt, so kurz vor Ladenschluss.
Vor dreißig Minuten hatten sich die Schneemassen am Fahrbahnrand genauso aufgetürmt wie jetzt. Vor dreißig Minuten hatte der Wind ihr ebenso ins Gesicht geschlagen, waren vereinzelt Menschen mit hochgeschlagenen Krägen und eingezogenen Köpfen den Gehweg entlanggeeilt. Die letzten Wochen waren die Leute stets die Straßen entlanggehuscht. Prominieren, das kannte hier keiner mehr. Sie nutzen die Stille zwischen den Alarmen und dem Brummen der Tiefflieger, um zum Lebensmittelhändler zu eilen, um nach Verwandten oder Freunden zu schauen, um Holz oder anderes brennbares Material für den Ofen zu sammeln.
Doch jetzt hatte sich das Bild, das ihre Stadt Else in den letzten Monaten geboten hatte, weiter verändert. Sie erkannte den Unterschied, als sie auf die Hauptstraße bog: Niemand ging den Bürgersteig entlang, niemand schien einer halbwegs normalen, alltäglichen Beschäftigung nachzugehen, dabei wimmelte es um sie herum nur so von Menschen. Else drückte ihr Brot noch enger an sich und drehte sich im Kreis, versuchte das Geschehen um sich herum zu erfassen. Die Leute eilten hin und her, rannten an ihr vorbei. Erschienen auf dem Gehweg, huschten ins Haus, hetzten wieder hinaus.
Else blieb stehen. Ihr Herz setzte aus. Dann schlug es mit einem Mal hart gegen ihre Brust, fast wie damals, als sie erfahren hatte, dass ihr Bruder gestorben war, ertrunken in der Oder.
Das Brot, das sie gerade wie ein Baby in ihren Armen gewogen hatte, rutschte tiefer. Im letzten Moment fing sie es auf, bevor ihr kostbares Gut in den Schneematsch klatschten konnte. Die Neunzehnjährige schaute sich um. Ihr Blick wurde hektisch. Sie sah die Einwohner ihrer Stadt, ihres Viertels, sah Frau Müller, die ihre Kinder vor sich her scheuchte, sah den alten Dreßler, wie er mit rot gefrorenen Fingern Kisten auf einem Karren festschnallte. Die Henschels von gegenüber schleppten Koffer auf die Straße. Karren standen auf dem Bürgersteig, Kartoffelsäcke, Kartons, Kinderwagen. Von oben kam eine Matratze.
»Vorsicht!« Frau Fiedler winkte hektisch vom Fenster des ersten Stockwerks. Else sprang zur Seite. Die Matratze streifte sie am Arm. Erschrocken ging Else weiter. Ihr Schritt wurde schnell. War es jetzt so weit?
Kurz vor ihrem Haus, das etwas abseits gelegen verschlafen dalag und als einziges Bauwerk mit einer Jesusstatue vor weiß verputzter Außenfassade protzte, eilte ihr Frau Bartsch entgegen. Frau Bartsch war ihre Nachbarin und stets auf dem Laufenden.
»Kind!«, rief sie Else entgegen. »Hast du es denn noch gar nicht mitbekommen?« Vor Else hielt sie an und machte eine Atempause, vielleicht auch eine Verschnaufpause, um die Spannung zu erhöhen. Else hob ihr Brot an, umschlang es mit ihren Armen.
»Wir müssen alle weg. Die Russen kommen. Lauf schnell nach Hause und pack eure Sachen, wenn es dir nicht ergehen soll wie den Frauen in Ostpreußen!«
Normalerweise kümmerte Else sich nicht darum, was Frau Bartsch sagte.
Bereits Ende letzten Jahres hatte diese mit weit aufgerissenen Augen von den Toten von Nemmersdorf gesprochen. Sie hatte auch von Tutteln erzählt und anderen Orten, die Else bis dahin unbekannt gewesen waren, deren Namen dann aber immer häufiger fielen. Nicht nur aus Frau Bartschs Mund. In der Zeitung las sie von »russischen Bestien«. Von schrecklichen Massakern war die Rede, die Frau Bartsch mit Entsetzen in der Stimme gerne in zerstochene und an Scheunentoren und Zäunen aufgespießte Leichen konkretisierte.
Frau Bartsch wusste immer alles und alles zuerst. Wenn sie in ihrem Element war, sprudelte sie über wie das Brausepulver, das Else als Kind so geliebt hatte, und das überschwappte, wenn man nicht aufpasste und zu viel Wasser ins Glas goss. Frau Bartschs Spucketröpfchen waren allerdings nie so angenehm wie die sprudelnde Himbeerbrause, die Else besonders liebte. Jetzt blieben die Spucketröpfchen aus, denn Frau Bartsch hatte nichts mehr zu sagen. Außer: »Nu lauf endlich!« Und dann war sie auch schon verschwunden.
Else schaute sich noch einmal um, eilte mit schnellen Schritten an der Jesusstatue vorbei und lief ins Haus.
Sie wären nicht die ersten, jetzt Anfang März fünfundvierzig, die sich auf den Weg Richtung Westen machten – ohne klares Ziel vor Augen, getrieben von dem Druck der näher rückenden Bomben, der ratternden Maschinengewehre, der rasselnden Panzerketten. So mancher Einwohner aus Ratibor hatte bereits seine Sachen gepackt und sich auf den Weg gemacht. Doch ebenso viele warteten ab, hofften auf ein Wunder oder darauf, dass alles nicht so schlimm werden würde. Man schaute, was der Nachbar, der Freund, der Verwandte machte. Blieb er? So wartete man selbst auch weiter ab. Und wo sollte man auch hin?
Doch heute hatte es eine offizielle Aufforderung gegeben. Es musste vorhin passiert sein, als Else beim Bäcker gewesen war. Sie hatte sich dort noch eine Zeit lang mit Lisa unterhalten. Lisa war die Tochter des Bäckers und früher Elses Schulfreundin gewesen. Lisa hatte den Volksempfänger, den sie im Wohnzimmer stehen hatten, aufgedreht und die Freundinnen hatten versucht, neue Nachrichten zu erhaschen, zumal in Elses Haushalt so ein Gerät nicht vorhanden war. Und als Else die schräpigen, kreischenden Stimmen hörte, war sie wieder einmal froh, dass sie das zu Hause nicht hören musste. Genauso froh wäre wahrscheinlich auch Flocki gewesen, der kleine Mischlingshund von Lisa. Denn er bellte die ganze Zeit dazwischen und versuchte, das Geschrei zu übertönen. Vom Gekreische aus dem Radiogerät und dem Gebell des Hundes ganz eingenommen hatten die Bewohner dieser unteren Etage der Bäckerei nichts von dem Wagen mit dem Lautsprecher mitbekommen, der durch die Straßen gefahren war und zum Verlassen der Stadt aufgefordert hatte – inklusive der Androhung von Strafe für diejenigen, die sich weigerten.
›Sie wird nicht mitkommen‹, dachte Else nun, als die Haustür hinter ihr ins Schloss fiel. Schnell lief sie in die Küche. Die Küche war leer. Sie schleuderte das Brot auf den Tisch und rief nach ihrer Mutter.
»Mutter!« Ihre Stimme hallte an den hohen Wänden des Flures wider. Ihre Mutter Gesine sprach Else immer mit ›Mutter‹ an. Ihren Vater Josef nannte sie Paps. Else wusste selbst nicht, warum. Sie hatte es von klein auf so gehandhabt. Oder hatte man es ihr so beigebracht? Vielleicht lag es auch daran, dass ihre Beziehung zu ihrer Mutter gut war, zu ihrem Paps aber tief. Tief und innig.
Auf ihr Rufen erhielt Else keine Antwort. Wo steckte sie nur? Sie mussten weg. Else wollte nicht alleine zurückbleiben. Alleine den Russen ausgeliefert sein. Ihr Herz hämmerte bis in ihre Ohren. Wenn nur Mutter mitkommt, flehte sie und dachte daran, dass ihre Mutter es heute noch nicht einmal geschafft hatte, zum Bäcker zu gehen.

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