eBook: Einführungspreis: 0,99 €
Worum es geht:
Was machst du, wenn die Kriegsfront immer näher rückt, deine Mutter sich aber weigert, das Haus zu verlassen?
Im März 1945 müssen
Else und ihre Mutter aus Ratibor fliehen. Doch wird Else es bis nach Bad Kudowa
schaffen, wo ihre beste Freundin und Cousine Anna wohnt? Zusammen mit ihrer
psychisch angeschlagenen Mutter Gesine macht sie sich auf den Weg. Doch nicht
nur der Krieg setzt der Neunzehnjährigen zu. Wer ist diese merkwürdige Frau,
die sie verfolgt und die ihre Mutter zu kennen scheint? Was hat die 'alte Hexe'
vor? Und was für ein Geheimnis verbirgt sich hinter ihr?
Wie gut, dass Else
wenigsten in 'Strumpf', einem ihr zugelaufenen jungen Hund, einen treuen
Begleiter findet.
Um das
Familiengeheimnis zu lüften, muss sie zu ihrer Tante Rosie finden. Doch nicht
nur Else macht sich auf den Weg dorthin …
Ein mitreißender,
unter die Haut gehender Roman über Flucht und Vertreibung, Freundschaft und
Zusammenhalt.
Leseprobe:
Alle raus hier! März 1945
Else trat aus
dem Bäckerladen auf die Straße. Sie presste das Brot eng vor ihre Brust, als
gelte es, einen Säugling vor der eisigen Kälte zu schützen. Der frische
Brotgeruch stieg der jungen Frau in die Nase und vernebelte ihre Sinne.
Dennoch fiel es ihr auf.
Irgendetwas war anders als vor einer halben Stunde, als Else hier
entlanggelaufen war. Schnell entlanggelaufen war, damit ihre fast
taubgefrorenen Füße in den zu dünnen Schuhen etwas wärmer wurden, damit sie die
Lebensmittelmarke noch loswurde und ein Brot erhielt, so kurz vor Ladenschluss.
Vor dreißig Minuten hatten sich die Schneemassen am Fahrbahnrand
genauso aufgetürmt wie jetzt. Vor dreißig Minuten hatte der Wind ihr ebenso ins
Gesicht geschlagen, waren vereinzelt Menschen mit hochgeschlagenen Krägen und eingezogenen
Köpfen den Gehweg entlanggeeilt. Die letzten Wochen waren die Leute stets die
Straßen entlanggehuscht. Prominieren, das kannte hier keiner mehr. Sie nutzen
die Stille zwischen den Alarmen und dem Brummen der Tiefflieger, um zum
Lebensmittelhändler zu eilen, um nach Verwandten oder Freunden zu schauen, um
Holz oder anderes brennbares Material für den Ofen zu sammeln.
Doch jetzt hatte sich das Bild, das ihre Stadt Else in den letzten
Monaten geboten hatte, weiter verändert. Sie erkannte den Unterschied, als sie
auf die Hauptstraße bog: Niemand ging den Bürgersteig entlang, niemand schien
einer halbwegs normalen, alltäglichen Beschäftigung nachzugehen, dabei wimmelte
es um sie herum nur so von Menschen. Else drückte ihr Brot noch enger an sich
und drehte sich im Kreis, versuchte das Geschehen um sich herum zu erfassen.
Die Leute eilten hin und her, rannten an ihr vorbei. Erschienen auf dem Gehweg,
huschten ins Haus, hetzten wieder hinaus.
Else blieb stehen. Ihr Herz setzte aus. Dann schlug es mit einem Mal
hart gegen ihre Brust, fast wie damals, als sie erfahren hatte, dass ihr Bruder
gestorben war, ertrunken in der Oder.
Das Brot, das sie gerade wie ein Baby in ihren Armen gewogen hatte,
rutschte tiefer. Im letzten Moment fing sie es auf, bevor ihr kostbares Gut in
den Schneematsch klatschten konnte. Die Neunzehnjährige schaute sich um. Ihr
Blick wurde hektisch. Sie sah die Einwohner ihrer Stadt, ihres Viertels, sah
Frau Müller, die ihre Kinder vor sich her scheuchte, sah den alten Dreßler, wie
er mit rot gefrorenen Fingern Kisten auf einem Karren festschnallte. Die
Henschels von gegenüber schleppten Koffer auf die Straße. Karren standen auf
dem Bürgersteig, Kartoffelsäcke, Kartons, Kinderwagen. Von oben kam eine
Matratze.
»Vorsicht!« Frau Fiedler winkte hektisch vom Fenster des ersten
Stockwerks. Else sprang zur Seite. Die Matratze streifte sie am Arm.
Erschrocken ging Else weiter. Ihr Schritt wurde schnell. War es jetzt so weit?
Kurz vor ihrem Haus, das etwas abseits gelegen verschlafen dalag und
als einziges Bauwerk mit einer Jesusstatue vor weiß verputzter Außenfassade
protzte, eilte ihr Frau Bartsch entgegen. Frau Bartsch war ihre Nachbarin und
stets auf dem Laufenden.
»Kind!«, rief sie Else entgegen. »Hast du es denn noch gar nicht mitbekommen?«
Vor Else hielt sie an und machte eine Atempause, vielleicht auch eine
Verschnaufpause, um die Spannung zu erhöhen. Else hob ihr Brot an, umschlang es
mit ihren Armen.
»Wir müssen alle weg. Die Russen kommen. Lauf schnell nach Hause und
pack eure Sachen, wenn es dir nicht ergehen soll wie den Frauen in Ostpreußen!«
Normalerweise kümmerte Else sich nicht darum, was Frau Bartsch sagte.
Bereits Ende letzten Jahres hatte diese mit weit aufgerissenen Augen von
den Toten von Nemmersdorf gesprochen. Sie hatte auch von Tutteln erzählt und
anderen Orten, die Else bis dahin unbekannt gewesen waren, deren Namen dann
aber immer häufiger fielen. Nicht nur aus Frau Bartschs Mund. In der Zeitung
las sie von »russischen Bestien«. Von schrecklichen Massakern war die Rede, die
Frau Bartsch mit Entsetzen in der Stimme gerne in zerstochene und an
Scheunentoren und Zäunen aufgespießte Leichen konkretisierte.
Frau Bartsch wusste immer alles und alles zuerst. Wenn sie in ihrem
Element war, sprudelte sie über wie das Brausepulver, das Else als Kind so
geliebt hatte, und das überschwappte, wenn man nicht aufpasste und zu viel
Wasser ins Glas goss. Frau Bartschs Spucketröpfchen waren allerdings nie so
angenehm wie die sprudelnde Himbeerbrause, die Else besonders liebte. Jetzt
blieben die Spucketröpfchen aus, denn Frau Bartsch hatte nichts mehr zu sagen.
Außer: »Nu lauf endlich!« Und dann war sie auch schon verschwunden.
Else schaute sich noch einmal um, eilte mit schnellen Schritten an der
Jesusstatue vorbei und lief ins Haus.
Sie wären nicht die ersten, jetzt Anfang März fünfundvierzig, die sich
auf den Weg Richtung Westen machten – ohne klares Ziel vor Augen, getrieben von
dem Druck der näher rückenden Bomben, der ratternden Maschinengewehre, der
rasselnden Panzerketten. So mancher Einwohner aus Ratibor hatte bereits seine
Sachen gepackt und sich auf den Weg gemacht. Doch ebenso viele warteten ab,
hofften auf ein Wunder oder darauf, dass alles nicht so schlimm werden würde.
Man schaute, was der Nachbar, der Freund, der Verwandte machte. Blieb er? So
wartete man selbst auch weiter ab. Und wo sollte man auch hin?
Doch heute hatte es eine offizielle Aufforderung gegeben. Es musste
vorhin passiert sein, als Else beim Bäcker gewesen war. Sie hatte sich dort
noch eine Zeit lang mit Lisa unterhalten. Lisa war die Tochter des Bäckers und
früher Elses Schulfreundin gewesen. Lisa hatte den Volksempfänger, den sie im
Wohnzimmer stehen hatten, aufgedreht und die Freundinnen hatten versucht, neue
Nachrichten zu erhaschen, zumal in Elses Haushalt so ein Gerät nicht vorhanden
war. Und als Else die schräpigen, kreischenden Stimmen hörte, war sie wieder
einmal froh, dass sie das zu Hause nicht hören musste. Genauso froh wäre
wahrscheinlich auch Flocki gewesen, der kleine Mischlingshund von Lisa. Denn er
bellte die ganze Zeit dazwischen und versuchte, das Geschrei zu übertönen. Vom
Gekreische aus dem Radiogerät und dem Gebell des Hundes ganz eingenommen hatten
die Bewohner dieser unteren Etage der Bäckerei nichts von dem Wagen mit dem Lautsprecher
mitbekommen, der durch die Straßen gefahren war und zum Verlassen der Stadt
aufgefordert hatte – inklusive der Androhung von Strafe für diejenigen, die
sich weigerten.
›Sie wird nicht mitkommen‹, dachte Else nun, als die Haustür hinter ihr
ins Schloss fiel. Schnell lief sie in die Küche. Die Küche war leer. Sie
schleuderte das Brot auf den Tisch und rief nach ihrer Mutter.
»Mutter!« Ihre Stimme hallte an den hohen Wänden des Flures wider. Ihre
Mutter Gesine sprach Else immer mit ›Mutter‹ an. Ihren Vater Josef nannte sie
Paps. Else wusste selbst nicht, warum. Sie hatte es von klein auf so
gehandhabt. Oder hatte man es ihr so beigebracht? Vielleicht lag es auch daran,
dass ihre Beziehung zu ihrer Mutter gut war, zu ihrem Paps aber tief. Tief und
innig.
Auf ihr Rufen erhielt Else keine Antwort. Wo steckte sie nur? Sie
mussten weg. Else wollte nicht alleine zurückbleiben. Alleine den Russen
ausgeliefert sein. Ihr Herz hämmerte bis in ihre Ohren. Wenn nur Mutter
mitkommt, flehte sie und dachte daran, dass ihre Mutter es heute noch nicht
einmal geschafft hatte, zum Bäcker zu gehen.
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